Mut zur Wut

Absenz. Die Wut ist absent. Ich wurde geboren, dann kam das Leben und dann wurde mir die Wut gestohlen. Wer hat sie mir weggenommen? Und was macht er oder sie jetzt damit? Jetzt ist das Leben wutlos und manchmal mutlos und die Farben sind blass und verwaschen, weil mir ein Teil fehlt. Ein Teil von mir selbst, der wichtig und gefährlich und trotzdem wichtig ist. So war es doch nicht immer - oder?
Ich hing Steckbriefe auf, hier und da, dann und wann. "Haben Sie diese Wut gesehen?", fragte ich. Verständnislose Gesichter und plötzlich jemand mit rotem Kopf, der die Zettel wieder herunterriss. "Verschwinde!", brüllte er, während ich ihn anstrahlte. Dieser Mann sah wütend aus! Vielleicht hatte er meine Wut genommen? Vielleicht hatte er meine Wut mit seiner Wut verwechselt und sie damals irrtümlicherweise mitgenommen? Ich war noch zu klein damals, um zu protestieren oder um zu wissen, dass sie später noch einmal wichtig werden sollte.
"Haben Sie vielleicht meine Wut gesehen?", fragte ich hoffnungsvoll, doch er jagte mich fort. Ich verstand ihn nicht, verstand die Wut nicht und zog weiter. Ich blickte in viele wütende Gesichter, hörte wütende Stimmen und sah wütende Gesten. Wut konnte sich auf so viele verschiedene Arten und Weisen äußern, dass mir schwindelig wurde. Ich hatte schon so viel gelernt, wusste gut Bescheid über Trauer und Ängste, Freude und Enttäuschungen, hatte sie eingehend studiert und reflektiert und rekapituliert, um sie zu implementieren und zu kultivieren. Es ging mir gut damit. Es ging mir gut und ich fühlte mich wohl mit ihren Vielschichtigkeiten, die keine Nichtigkeiten waren, wie mir so viele weiß zu machen versuchten. Ich hörte nicht auf sie, denn sie konnten mir nur etwas über die Wut erzählen.
Jetzt aber brauchte ich sie. Doch nun konnten sie mir nicht einmal mehr etwas über die Wut erzählen, weil sie vor lauter Wut nicht mehr die Wut sahen und der Schaum vor ihrem Mund zu sehr spritzte. Ich wischte mir das Gesicht ab und sah nachdenklich zu Boden. Am Boden war keine Wut. Wut war nie extern und in der wirklichen Welt greifbar, glaubte ich, sie war immer intern. Ich hatte keine Anhaltspunkte. Ich musste die Wut irgendwie in meinem Inneren suchen und eine neue Wut finden, nachdem mir die alte genommen wurde.
Wie findet man eine neue Wut?
Ich ging methodisch vor. Die mit ihren großen Handschuhen und den harten Sandsäcken versprachen das schnellste Erfolgserlebnis, doch auch nach drei Jahren hatte ich keine Wut gefunden, sondern nur noch mehr Freude und Frustration. Ich verstand die Wut immer noch nicht. Ich wusste immer noch nicht, wie sie für mich aussah oder wo ich sie fand. Schließlich saß ich in einem Stuhlkreis mit anderen, denen es ähnlich ging, wenn auch anders. Da war der mit den großen Händen, der nur Trauer und Frustration kannte. Vielleicht waren seine Hände deshalb so groß, weil seine Trauer und seine Frustration so groß waren, dass sie zu schwer wogen und er so stark damit beschäftigt war, sie zu halten, wodurch er keinen Platz mehr für etwas anderes hatte. Da war die mit dem geordneten Hefter, die Stolz nicht kannte. Ihr hatte man den Stolz genommen, mir die Wut. Ich fragte mich erneut: Wer tut nur so etwas?
Darauf hatte niemand eine Antwort. Zum ersten Mal aber verstand ich nun, warum die Wut wichtig war. Das war ein Fortschritt, auch wenn ich nun darüber nachdenken musste, was meine Grenzen waren. Das war der nächste Schritt.
Und vielleicht würde ich der Wut endlich einen Schritt näher kommen, sobald ich meine Grenzen abgesteckt hatte.
Ich habe eine laienhafte Vorstellung von der Wut: Sie ist laut, sie ist kraftvoll, energiegeladen und unberechenbar. Sie hält großes schöpferisches und auch zerstörerisches Potential. Sie macht mir Angst, sie ist gefährlich und trotzdem nur allzu menschlich. Ich bin ein Mensch, nur ein Mensch, dem dieser Teil fehlt. Oh, die Freude der Vorstellung, sich eines Tages vollständig zu fühlen! Vielleicht möchte ich deshalb meine Wut wieder haben, damit die Farben - die anderen Emotionen - wieder kräftiger werden. Vielleicht hängt alles zusammen. Vielleicht irre ich mich und irre weiter umher.
Ich will es aber versuchen. Will es wirklich versuchen.
Also hänge ich noch einen Steckbrief auf. Dieses Mal aber nicht draußen, wo ihn andere sehen können, sondern in mir selbst. "Gesucht: meine Wut." Darunter lasse ich Platz für ein Gefühl, das ich erst noch ergründen muss.
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Es tut nichts zur Sache